Seit März 2015 ist Corinna Baumann Mitglied im Exil-Vorstand und wurde im Oktober 2016 zur Stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Zuvor war Corinna im Leitungsteam der Exil-Gruppe FreiZeit für Flüchtlingskinder aktiv und arbeitet auch weiter dort mit. Klaus Stakemeier befragte Corinna zu ihrem Werdegang, ihrer Motivation, für Geflüchtete einzutreten, und zu ihren Arbeitsschwerpunkten bei Exil.
Klaus: Hallo, Corinna, schon seit einem halben Jahr leitest du unseren Verein, weil unser Vorsitzender Tim Zumloh zurzeit ein Auslandssemester in Südspanien verbringt. Nebenbei studierst du an der Universität Osnabrück und arbeitest nebenamtlich noch im Bildungsbereich. Wie schaffst du das alles?
Corinna: Vor allem mache ich diese Dinge gerne und sehe sie als Bereicherung. Sowohl mein Studium als auch mein Engagement bereiten mir sehr viel Freude und somit investiere ich viel Zeit in diesen unterschiedlichen Bereichen. Dafür studiere ich auch nicht gerade in Regelstudienzeit.
Klaus: Woher stammt dein Interesse für deinen heutigen Studiengang und dein Engagement für Geflüchtete und Migrant*innen?
Corinna: Ich denke, dass ich mich einerseits schon immer gerne in sozialen Kontexten bewegt habe und den Kontakt zu Menschen suche. Je vielfältiger die Gemeinschaft ist, desto bereichernder erlebe ich den Austausch. Außerdem habe ich mich während meiner Schulzeit viel mit Themen der sozialen Gerechtigkeit befasst und mich mit gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt. Als ich für mein Studium nach Osnabrück gezogen bin, wollte ich mich gerne auch praktisch engagieren. So bin ich im Oktober 2013 bei FreiZeit für Flüchtlingskinder gelandet und habe direkt gemerkt, dass ich in dieses Projekt gerne involviert sein möchte. Zum einen hatte ich zuvor keine Berührungspunkte zu geflüchteten Menschen, was mich selbst schockierte, aber mir auch bestätigte, wie sehr diese Personen oft gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig habe ich durch den interkulturellen Austausch sehr viel über unsere Welt, unsere Gesellschaft und über mich selbst gelernt. Je länger ich ehrenamtlich bei Exil aktiv war, desto stärker ist mir bewusst geworden, dass ich auch beruflich gerne im Themenfeld Flucht und Migration arbeiten möchte, weshalb ich den Master „Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen“ studiere.
Klaus: Eine deiner Aufgaben innerhalb des Vorstands ist es, dass du zusammen mit unserer Geschäftsführerin Sara Höweler Ansprechpartnerin für unsere Mitarbeitenden bist. Wie siehst du Exil heute aufgestellt – vielleicht im Vergleich zum Frühjahr 2015, als wir beide das erste Mal als Beisitzende in den Vorstand gewählt wurden?
Corinna: Ich denke, dass der Verein seit Anfang 2015 viele grundlegende Veränderungen erfahren hat und immer noch im Prozess ist, mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Exil ist in vielerlei Hinsicht stark gewachsen: Die Beratungsangebote haben stark zugenommen, die berufliche Qualifizierung geflüchteter Frauen ist neu hinzugekommen, die Ehrenamtlichen werden nun professionell begleitet und unterstützt und auch die kulturellen Veranstaltungen haben deutlich zugenommen, um nur einige Beispiele zu nennen. Personell wie strukturell ist hier ein großes Wachstum über eine sehr kurze Zeitspanne zu verzeichnen. Ich möchte mich hier nicht zu einer Aussage hinreißen lassen, im Sinne von „Exil ist besser oder schlechter aufgestellt als noch vor drei bis vier Jahren“, weil ich das zu vereinfacht finde. Ich denke, dass Exil damals ein ganz anderer Verein war, als er es heute ist, und meiner Ansicht nach ist das auch nur logisch. Schließlich hat sich auch über die letzten Jahre die politische und gesellschaftliche Situation bezüglich Flucht und Migration stark geändert und es ist gleichermaßen absehbar, dass sie sich auch weiterhin ändern wird. Als Verein, der sich für geflüchtete Menschen engagiert, werden wir immer herausgefordert sein, mit den Tatsachen umgehen zu müssen, die politisch geschaffen werden.
In Bezug auf die hauptamtlichen Mitarbeiter*innen denke ich, dass wir insofern gut aufgestellt sind, als dass wir eine breite Spanne an Angeboten für geflüchtete Menschen zur Verfügung stellen können, die auch gut genutzt werden. Wir haben uns als Beratungsstelle und als politisch-kultureller Verein etabliert, werden stark beansprucht und das ist ein gutes Signal, denke ich. Gleichzeitig erfordert das vielfältige Mehr an Arbeit natürlich auch gut etablierte Strukturen, die teilweise noch nachwachsen müssen. Ein Team, das sich in so kurzer Zeit um ein Zehnfaches vergrößert, muss sich neu einspielen und gemeinsame Strukturen und Strategien müssen bisweilen immer noch entwickelt werden. Meiner Ansicht nach ist dies ein sehr bedeutsamer und vielversprechender Prozess, der in den nächsten Monaten viel Einsatz und Raum erfordern wird.
Klaus: Wir haben jetzt über unsere hauptamtlichen Mitarbeiter*innen gesprochen. Eine große Rolle bei Exil spielt auch die ehrenamtliche Arbeit, bei der gerade ein Qualifizierungsprozess begonnen hat. Was heißt das und warum ist diese Entwicklung so wichtig?
Corinna: Das oberste Ziel der Qualifizierung des Ehrenamtes ist der Schutz unserer Klient*innen und aller geflüchteten Personen, die unsere Angebote in Anspruch nehmen. Ähnlich wie beim Hauptamt ist auch sehr viel ehrenamtliches Engagement im Verein aus dem akuten Bedarf heraus gewachsen, ohne dass es im Vorfeld immer durchstrukturiert geplant wurde. Lücken, die sich daraus ergeben, haben wir somit auch teilweise erst später erkannt, wie beispielsweise, dass wir neben unserem Leitbild keinen grundlegenden Verhaltenskodex für Ehrenamtliche im Verein haben. Diese Lücken sollen nun gezielt reflektiert und geschlossen werden, damit wir gewährleisten können, dass sich auch ehrenamtliche Personen bei Exil geflüchteten Personen und Klient*innen gegenüber achtsam und professionell verhalten.
Ein weiterer Auslöser für die Qualifizierung des Ehrenamtes war die Erstellung eines Kinderschutzkonzepts der Initiative FreiZeit für Flüchtlingskinder zusammen mit dem Deutschen Kinderschutzbund. Dieses befasst sich unter anderem sehr intensiv damit, welche Rolle wir als ehrenamtliche Mitarbeiter*innen gegenüber den Kindern und Jugendlichen einnehmen, welches Nähe- und Distanz-Verhalten in unserer Arbeit angemessen ist, oder wie wir ein gut funktionierendes Beschwerdemanagement im Projekt etablieren können. Wir haben hier sehr positive Erfahrungen damit gemacht, uns selbst klare Rahmenbedingungen für unsere Arbeit zu setzen, um den Kindern und Jugendlichen größtmögliche Professionalität und Transparenz zu gewährleisten.
Wir haben also eine Arbeitsgruppe zur Qualifizierung des Ehrenamts gegründet, die diese Prozesse verfolgt und zusammen mit den ehrenamtlich Aktiven und den Hauptamtlichen ein Ehrenamts-Konzept erstellt. Dieses soll letztlich die Wünsche und Standards der ehrenamtlichen Zusammenarbeit vereinbaren und für alle nachvollziehbar und transparent sein.
Klaus: Als Stellvertretende Vorsitzende von Exil wirst du sicher auch nach der sozialen und politischen Einstellung von Exil gefragt. Ist hier Exil deiner Meinung nach auf dem richtigen Weg und auch in der Lage, den immer lauter werdenden Stimmen gegen eine sozial vernünftige Flüchtlingspolitik Paroli zu bieten und mit Beratungsangeboten und Integrationsarbeit zu überzeugen?
Corinna: Dass sich Menschen von der Sinnhaftigkeit einer sozialen Flüchtlingspolitik überzeugen lassen, weil wir bei Exil für geflüchtete Menschen eine gute Beratung anbieten, wage ich zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz kann natürlich unsere Arbeit einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen mit Fluchtgeschichte bessere Teilhabechancen in der deutschen Gesellschaft erlangen und somit das interkulturelle Zusammenleben bestärkt und gefördert wird. Grundsätzlich glaube ich, dass wir durchaus eine relevante Position einnehmen, da wir einerseits als Organisation unterstützend für geflüchtete Menschen eintreten und ihnen helfen können, sich in Deutschland zu verwirklichen, Sprachbarrieren zu überwinden, ihre Familien nachzuziehen, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden und noch viel mehr. Durch diese Maßnahmen werden gesellschaftliche Barrieren und Grenzen abgebaut und die Partizipation der geflüchteten Menschen hoffentlich um einige relevante Hürden erleichtert. Zusätzlich sind wir seit jeher bemüht, Räume der Begegnung zwischen Einheimischen und Migrant*innen zu schaffen. Dies wird bedeutungsvoll, wenn es um Vorbehalte, Vorurteile oder Rassismen geht, die jeder Mensch in sich trägt. Diese werden oft nur durch Kontakte und Erfahrungen mit dem jeweiligen Gegenüber überwunden und daher liegt hier stets ein Fokus unserer kulturellen Arbeit.
Nichtsdestotrotz erachte ich unsere Möglichkeiten gleichzeitig als begrenzt. Rechtspopulistische Positionen gewinnen in Deutschland und Europa seit Jahren immer mehr Raum. Dahinter stehen oft soziale Ängste und Missstände, denen wir auch durch interkulturelle Begegnungen und dem Engagement für Geflüchtete natürlich keine Abhilfe verschaffen. Hier herrschen strukturelle und gesellschaftlich-politische Probleme, die entsprechend auch dort angegriffen werden müssten. Doch stattdessen greifen auch verantwortliche Politiker*innen diese Ängste auf und stellen inzwischen das grundsätzliche Recht auf Asyl zur Debatte. Gegenwind kommt inzwischen nicht mehr allein von ‚rechts‘ sondern verstärkt auch aus der Mitte der Gesellschaft und von führenden Politiker*innen. In solchen Zeiten ist es für uns natürlich noch bedeutsamer, aktiv zu werden, Position zu beziehen und uns in Netzwerken zu organisieren. Dies tun wir natürlich auch, aber gleichzeitig kostet das viel Kraft und somit liegt hier nicht unser ständiger Fokus.
Klaus: Was passiert weltweit, dass derart viele Menschen auf der Flucht sind? Wo müsste die Politik ansetzen und wo sind wir als Individuen gefordert? – Mit dieser letzten Frage möchte ich dir gerne für das Interview danken.
Corinna: Die Zahl der Menschen, die von Zwangsmigration betroffen sind, steigt derzeit kontinuierlich an. Die Gründe sind vielfältig: Bürgerkriege, Konflikte, Verfolgung, Diskriminierung oder Perspektivlosigkeit gehören zu den Hauptfaktoren.
Auf politischer Ebene könnten verschiedene Maßnahmen getroffen werden. Zum einen müssten die reichen Staaten des globalen Nordens ihre Verantwortung anerkennen, die sie gegenüber den geflüchteten Menschen und den Staaten des globalen Südens haben. Viele Fluchtursachen haben wir durch jahrelange Ausbeutung, Kolonisationsgeschichte oder Waffenexporte mit begünstigt und provoziert. Diese Verantwortungsübernahme könnte beispielsweise darin liegen, legale Fluchtrouten zu schaffen, einheitliche, faire und transparente Asylsysteme zu etablieren, geflüchteten Menschen faire Chancen zu ermöglichen, im Aufnahmeland Fuß zu fassen und Individuen wie Familien gesellschaftlich zu integrieren, statt zu kriminalisieren, auszugrenzen und in zermürbende Warteschleifen zu versetzen. Außerdem wird permanent die Bekämpfung von Fluchtursachen gefordert, allerdings liegen hierzu kaum erfolgversprechende Konzepte vor. Es werden Milliardensummen ausgegeben, um korrupte Deals mit den Erstaufnahmestaaten aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Rüstungsexporte in Krisenländer gebilligt. Doch die tatsächliche Verhinderung von Fluchtgründen scheint alle führenden Politiker*innen ratlos zu machen, obwohl es doch eine ihrer zentralen Aufgaben sein sollte.
In Bezug auf unseren persönlichen Einsatz sehe ich extrem viele Möglichkeiten des Engagements und jede Person sollte individuell überlegen, wo und wie sie ihre Kräfte einsetzen möchte. Politischer Aktivismus ist so vielfältig möglich: Sei es durch die Unterstützung einer Familie in der direkten Nachbarschaft, durch das ehrenamtliche Engagement in einem Verein oder durch die Teilnahme an Demonstrationen – alles kann zielführend, bedeutsam oder ermutigend sein. Wichtig bei der Unterstützung von Menschen mit Fluchthintergrund ist insbesondere, die Menschen nicht auf ihre Fluchtgeschichte zu reduzieren, nicht mit einem verfälschten Integrationsanspruch auf sie zuzugehen und die Offenheit mitzubringen, selbst als lernende Person den interkulturellen Austausch zu erfahren. Oft bauen wir unbewusste Hierarchien zwischen „uns“ und „denen“ auf, auch wenn wir eigentlich gute Absichten haben. Hier kann ich nur ermutigen, sich permanent selbst zu reflektieren und reflektieren zu lassen, denn nur so können wir eine wirklich inklusive Gesellschaft werden.