Von Chris Cheeseman
Überlebenswichtige Seenotrettung wird blockiert und sogar kriminalisiert – deshalb rief die Seebrücke Osnabrück für den 6. Juli dazu auf, zu einer Kundgebung am Theater zu kommen und anschließend eine Menschenkette zu bilden. In ganz Deutschland fanden an diesem Tag ähnliche Aktionen statt, Tausende beteiligten sich. In Osnabrück kamen ca. 400 Menschen zusammen, um gegen die inhumane Abschottung der EU und die Kriminalisierung der Retter*innen zu protestieren.
Niels Kropp von der Seebrücke forderte die Stadt Osnabrück und das Land Niedersachsen auf, mit den Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer zu kooperieren und Aufnahmeprogramme für flüchtende Menschen zu initiieren. Vor allem aber ginge es um sichere Fluchtwege für die Menschen. Anschließend sprach Gerrit Schulte von der Caritas, der die „Willkür und mörderische Gleichgültigkeit“ von EU, Bundesregierung und Innenminister Seehofer scharf kritisierte.
Für Exil sprachen Daniela Boltres und Chris Cheeseman.
Daniela Boltres: Auch bei uns, beim Verein Exil, treffen wir Menschen, die übers Meer nach Europa geflüchtet und hier bei uns angekommen sind. Menschen, die uns ihre Geschichte erzählt haben. Bruchstücke ihres Erlebens sind eingegangen in unser Buch: „WIR SCHREIBEN GESCHICHTEn“. Es sind Texte Geflüchteter, die die vielstimmige Geschichte Osnabrück erzählen. Ihre Geschichten gehören ins Gedächtnis der Stadt wie sie in unser Gewissen gehören. Damit wir eine andere Geschichte erzählen können: Nicht des Berechnens, sondern der Solidarität. Nicht des Todes, sondern der Rettung.
Zwei Geschichten: Abdelmajeed Abdalla, geflohen aus dem Sudan über Ägypten und das Mittelmeer, gerettet von einem Frachtschiff der Firma Cosco Yantian, unter maltesischer Flagge. Er wäre gerne heute hier und würde euch seine Geschichte persönlich erzählen.
Kurzprotokoll einer Flucht
„Zuerst von Sudan bis Ägypten. In Ägypten: zwei Wochen dort. Bis Italien mit einem Boot 7 Tage lang, im Ramadan, fastend, 350 Leute an Bord. Das Boot ging kaputt, Wasser drang von unten ein. Wir haben drei Mal angerufen, dann ist ein privates großes Schiff gekommen, den Firmennamen habe ich vergessen, alle haben es geschafft. In Italien war ich mehr als 1 Woche, danach über Frankreich und Norwegen nach Deutschland. Ein langer Weg. Freunde: Keiner ist in Deutschland. Sie sind verteilt über England, Frankreich, Schweden, Norwegen. So ist das Leben, man kann es nicht einfach verbessern.“
Bakri Ahmad Al Bsher, ebenfalls übers Meer geflohen, ebenfalls aus dem Sudan, erzählt, wie schmerzvoll Rettung nach der Flucht sein kann.
Verlorene Seelen (Fragmente)
„Nachdem wir heruntergefallen waren wie vergessenes Laub in einem vergessenen Wald, wie sollten wir uns das vorstellen können, dass wir jemals wieder zurück könnten? Nachdem wir unser Zuhause verlassen hatten, weil uns unser Zuhause aufgegeben hatte, flohen wir zu einem erdachten neuen Zuhause. Wir hofften, schnell von der grausamen Wirklichkeit zu heilen. Wir hofften, dass der Schmerz täglich geringer werde, und dass wir eines Tages wieder heil sein würden. Doch die Augen unserer Familienangehörigen beim Abschied, müde und schmerzerfüllt, gingen mit uns auf die Flucht. Ihre Blicke quälen unsere Herzen, ihre Blicke versklaven unsere verlorenen Seelen. Diese Blicke sind stärker als unsere Freude über unsere Rettung.“
Wir wissen aus Bakr Ahmad Al Bsher Geschichte, dass mit der Rettung noch längst nicht alles getan ist. Nicht nur wir von Exil wollen die Geflüchteten willkommen heißen und neben ihrem Schmerz über das Verlorene ausharren. Ganz Osnabrück hat jetzt die Chance, Geschichte zu schreiben und Geflüchtete von der SeaWatch aufzunehmen.
Ihr alle, die ihr hier steht, seid dieses Versprechen!
Chris Cheeseman: Dies ist eine Trauerrede. Dies ist eine Wutrede!
Es kann keine anderen Reden geben, schon lange nicht mehr, angesichts der 35.000 Toten auf der Flucht in die EU, davon 18.000 Ertrunkene im Mittelmeer. Und bei unzähligen nicht registrierten Toten im Sand der Sahara, auf dem Boden der Ägäis, in Massengräbern verscharrt entlang des Evros, des Grenzflusses zwischen Türkei, Griechenland und Bulgarien. Und die Überlebenden?
Viele von ihnen sind gezeichnet durch schlimmste, traumatisierende Erlebnisse. Vergewaltigung und Folter, Versklavung und Entführung gehören zu den Erfahrungen, die Menschen auf der Flucht machen – selbst wenn sie bereits in der EU sind. Viele sind gestrandet in Lagern, offiziellen und inoffiziellen Camps, an den EU-Grenzen innerhalb Europas, auf den griechischen Inseln, an der Kanalküste Frankreichs, immer unter katastrophalen Bedingungen. Viele sind von ihren Familien in anderen Ländern Europas getrennt, auch viele Kinder, und die Staaten Europas, die offiziell den Schutz der Familie garantieren, blockieren die Zusammenführung, mit legalen wie illegalen Mitteln.
Und so sagen wir: Die Zeit für Argumente ist längst vorbei, und es kann kein Abwägen geben – wir machen da nicht mit – es kann kein Abwägen geben, ob Menschen leben dürfen, ob das Recht auf ein menschenwürdiges Leben für Alle gilt. Wir machen da nicht mit! Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten hier wie überall woanders. Da ist der Zynismus eines Teils der Politik, Carola Rackete zu loben und zu verteidigen, selber aber migrationsfeindliche und rassistische Politik zu stützen und zu machen, unerträglich.
Wo ist der Druck auf die EU, ihr Grenzregime abzuschaffen? Wo ist die Schaffung sicherer, kostenloser Zugänge, damit Menschen ein Recht auf Asyl tatsächlich beanspruchen können? Und wenn dieselben, die humanitäres Engagement loben, mit immer mehr Verschärfungen ein Ankommen der Menschen, die es trotz aller Widrigkeiten und Gefahren hierher schafften, verhindern und quasi die Hölle der Flucht verlängern – das ist nicht weniger menschenfeindlich und rassistisch als die Politik des italienischen Faschisten Salvini.
Dabei würde Carola Rackete am liebsten nicht hinaus fahren, um Menschen zu retten. Sie würde viel lieber das Meer genießen, so wie die meisten von uns. Aber sie muss es tun, weil unser Wirtschaften und unsere Politik die Menschen zur Flucht treibt, und weil es keinen sicheren Zugang zu Europa gibt.
„Unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder religiösen Herkunft setzen wir uns dafür ein, dass Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte menschenwürdig und angstfrei hier leben können.“ Das ist aus dem Leitbild von Exil. Dazu gehört natürlich auch, dass flüchtende und migrierende Menschen unabhängig von ihrer Herkunft angstfrei zu uns kommen können. Dafür stehen wir ein, dafür engagieren wir uns, auch heute mit euch allen. Wir begrüßen es, wenn Osnabrück sich zur Aufnahme weiterer Geflüchteter bereit erklärt. Wir wollen, dass sie kommen, wenn sie es selber wollen.
Für das Recht auf Flucht, das Recht auf Migration. Für offene Grenzen, Herzen und Köpfe.