Kirchenasyl verhindert Trennung von Vater, Mutter und drei Kindern

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Erfolgsgeschichten aus 35 Jahren Exil: Nach 10 Jahren Flucht endlich angekommen – Osnabrück wird für Familie S. zum „sicheren Hafen“

Ein kleines Wort, das für Familie S. die Welt verändert

Osnabrück, 26. Juni 2022. Etwas ungläubig wirkt sein Blick, seine Hände sind starr und seine Körperhaltung kerzengerade. Kann er dem trauen, was seine Ohren gerade gehört haben? Vater S. dreht sich um, sucht den Blick seiner ältesten Tochter, die ihn zur Gerichtsverhandlung begleitet hat – und beginnt langsam zu lächeln. Abschiebungsverbot. Ein kleines Wort, das für Familie S. die Welt verändert. Abschiebungsverbot. Das bedeutet Sicherheit für Vater S. und seine Familie und es bedeutet richterlich ausgesprochenes Recht auf ein gemeinsames Leben als Familie in Osnabrück. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat an diesem Montag im April offizielle Abschiebungsverbote für Familie S. erteilt. Der Andrang war riesig: Viele Menschen, Wegbegleiter, Freunde und Freundinnen waren gekommen, um ihre Solidarität zu zeigen – darunter auch Britt Bartel, Migrationsberaterin und Expertin für Flüchtlings- und Migrationsrecht bei Exil. „Ich kann es immer noch nicht glauben – jetzt beginnt eine neue Zeit für uns. Zehn Jahre waren wir auf der Flucht – jetzt können wir alle in Osnabrück bleiben und zusammen als Familie leben und Ruhe finden“, sagt Vater S. Hoffnung schwingt in seinen Worten mit. Hoffnung, die man gut verstehen kann, wenn man die Geschichte der Familie kennt.

Nirgends zu Hause – überall unerwünscht

Familie S., das sind Mama S., gebürtige Weißrussin, Vater S., gebürtiger Afghane, und ihre drei Töchter im Alter von 21, 17 und 13 Jahren. Die Kinder besitzen dieselbe Staatsangehörigkeit wie ihre Mutter. Vor zehn Jahren lebten sie alle gemeinsam in Weißrussland. Sie hatten eine schöne Wohnung mit viel Platz zum Singen, Tanzen und Sporttreiben für die Mädchen und eine große Küche, in der sie gemeinsam kochten. Die Kinder gingen zur Schule und in den Kindergarten. Vater S. hatte ein eigenes Lederwarengeschäft, Mutter S. arbeitete als Buchhalterin. Gemeinsam unternahmen sie viel mit ihren Kindern, kümmerten sich um den Haushalt und kochten weißrussische und afghanische Gerichte. Alles war gut, doch dann fingen die Drohungen an. Erst ganz leise, dann – nach und nach – wurden sie lauter. Die Mädchen wurden immer häufiger diskriminiert, die Eltern gewalttätig angegriffen. Anscheinend passten sie nicht in das dortige Familienbild. Da die örtliche Polizei keinen Schutz gewährte und die Situation sich immer mehr zuspitzte, fasste Familie S. den Entschluss, im Sommer 2012 nach Afghanistan – der Heimat des Vaters – zu fliehen. Die jüngste Tochter war damals erst drei Jahre alt. Dort angekommen, musste die Familie noch schlimmere Zustände ertragen. Weil Mutter S. nicht dem muslimischen Glauben angehörte und Vater S. seine Frau nicht zur Konversion zwingen wollte, wurden sie massiv von den Taliban bedroht. Sie fürchteten um ihr Leben. Die Bedrohungslage spitzte sich im Winter so sehr zu, dass die Eltern mit den Kindern erneut fliehen mussten, und dieses Mal hofften sie, in Dänemark ein sicheres Zuhause zu finden.

„In Dänemark hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, angekommen zu sein.“

„In Dänemark hatten wir zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, angekommen zu sein. Mit der Zeit fühlte es sich sogar an wie ein richtiges Zuhause. Die Kinder waren dort so glücklich, hatten viele Freunde und Hobbys. Die beiden jüngeren besuchten die Tanz- und Sportschule. Unsere Große ist eine sehr gute Sängerin, sie wurde sofort in den Schulchor ihres Gymnasiums aufgenommen. Ich war immer so stolz, wenn ich sie mit den anderen singen hörte“, erzählt Vater S. weiter. Vater und Mutter S. engagierten sich ehrenamtlich in der Stadt, in der sie lebten. Weil sie ein Arbeitsverbot erteilt bekommen hatten, durften sie keiner bezahlten Beschäftigung nachgehen. Beiden war es trotzdem wichtig, ihren Beitrag zu leisten, eine Aufgabe zu haben und ein Vorbild für ihre Töchter zu sein. Das sei auch der Weg, über den man am besten eine Sprache erlerne, betont Vater S.: „Misch dich unter die Leute, sie helfen dir und bringen dir das Sprechen bei.“

Vater sollte nach Afghanistan, Mutter und Töchter nach Weißrussland abgeschoben werden

Nach fast sechs Jahren Aufenthalt lehnte Dänemark die Asylanträge von Familie S. ab, auch ihre Klagen wurden abgewiesen. Trotz der guten Integration aller Familienmitglieder sollten sie nun abgeschoben und getrennt werden. Vater S. sollte nach Afghanistan und Mutter S. mit den drei Mädchen nach Weißrussland zurückgeschickt werden. Wieder wurden die Kinder aus ihrem vertraut gewordenen Umfeld herausgerissen, wieder mussten sie alles zurücklassen, wieder waren sie allein, ohne Freundinnen und Freunde. Die Vollstreckung der Abschiebung hätte sie auf viele Jahre getrennt und in Länder zurückgebracht, in denen ihr Leben auf dem Spiel stand. Familie S. floh ein weiteres Mal – um zusammenbleiben zu können und um Leib und Leben zu retten. Am Nikolaustag, im Dezember 2018, kam Familie S. dann in die Beratung von Britt Bartel, Expertin für Migrations- und Flüchtlingsrecht bei Exil. „Ich habe schnell gemerkt, da ist wieder eine Familie mit einer langen Leidensgeschichte. Aber eine Familie mit viel Liebe füreinander und mit guten Seelen. Die sind einfach zauberhaft und das Wohlergehen ihrer Kinder und deren Förderung ist ihnen unfassbar wichtig“, erzählt sie. Zum Zeitpunkt der Beratung war klar, dass die Familie schnell Hilfe brauchte, denn Deutschland hatte bereits das Dublin-Verfahren eingeleitet. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen 32 europäischen Ländern, der regelt, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Für Familie S. war Dänemark zuständig. Das bedeutete, dass die deutschen Behörden die Familie zurück nach Dänemark bringen würden. Und Dänemark hätte die Ausreisepflicht wie geplant vollstreckt.

Exil-Beraterin hat rettende Idee – Kirchenasyl bietet „sicheren Hafen“

Davor hatten alle Familienmitglieder wahnsinnige Angst. Dank ihrer langjährigen Erfahrung als Migrationsberaterin und detaillierten Kenntnissen des Dublin-Verfahrens hatte Britt die rettende Idee: Die Familie brauchte Zeit, die Dublin-Frist musste ablaufen. Denn Im Dublin-Verfahren ist für einen Asylsuchenden ohne Visum der Staat zuständig, in den die Person zuerst eingereist ist – es sei denn, sie hält sich bereits mindestens sechs Monate in einem anderen Vertragsstaat auf. „Es ging nur noch um 6 Wochen, dann wäre die Frist für Familie S. abgelaufen und Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Es ging um eine Unterkunft, um Verpflegung, um Nähe und Menschlichkeit – und um eine offizielle Adresse für diese Zeit, damit die Familie nicht als untergetaucht und illegal galt. Sechs Wochen, dann dürfte Familie S. erst einmal in Deutschland bleiben, so haben wir das auch kommuniziert“, erzählt Britt. Sie habe dann mit einer Kollegin kurz vor Weihnachten vier Tage lang sämtliche Kirchengemeinden in Stadt und Landkreis Osnabrück abtelefoniert und um Kirchenasyl für die Familie gebeten. Bis sie eine wunderbare Kirchengemeinde in Hasbergen fanden, die ihre Unterstützung zusagte und der Familie Obdach und einen „sicheren Hafen“ gab.

„So viel Wärme und Engagement hat mich berührt“

Dort bekamen die Mädchen Besuche von ihren Freundinnen und Freunden aus Dänemark, die eigens dafür nach Deutschland anreisten. Denn die Anfangszeit in Osnabrück war besonders für die Kinder von viel Heimweh nach den lieben Menschen in Dänemark geprägt. Der dänische Chor, in dem die große Tochter aktiv war, organisierte sogar einen Gastauftritt in Niedersachsen, nur um Tochter S. zu besuchen. Auf den Plakaten zur Ankündigung des Konzerts hatte der Chor das Gesicht von Tochter S. digital eingefügt, da sie zum Zeitpunkt der Foto-Aufnahme bereits in Osnabrück war. „Das hat mich so berührt, so viel Wärme und Engagement zu sehen und zu erleben – das zeigt gut, wie integriert die Familie in Dänemark war“, erinnert sich Britt. Die Hasberger Kichengemeinde und Exil e.V. versuchten gemeinsam, die Vorweihnachtszeit für Familie S. so gut wie möglich zu gestalten. Mit Weihnachtsmarkt- und Theaterbesuchen, Konzerten und Sportaktionen mit anderen Kindern versuchten viele Engagierte, den Kindern das Herz etwas leichter zu machen und die lange Wartezeit zu überbrücken. Vater und Mutter S. durften das Kirchengelände wegen Einhaltung des Kirchenasyls nicht verlassen, engagierten sich aber in der Gemeinde. Mutter S. half im Kindergarten aus, Vater S. machte sich mit seinem handwerklichen Geschick nützlich.

Exil verhindert Dublin-Abschiebung und bereitet Vater auf Gerichtsverfahren vor

So besinnlich der Dezember auch endete – im Januar wurde es turbulent. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erkannte den Härtefallantrag der Hasberger Gemeinde auf Kirchenasyl nicht an. Die Familie musste sich für die letzten Tage bis Ablauf der Dublin-Frist umgehend zurück in das Ankunftszentrum Bramsche begeben. Nur durch schnelles und beherztes Eingreifen von Exil e.V. konnte die drohende Dublin-Abschiebung verhindert werden. Wieder war es Britts rechtliche Expertise und eine weitere rettende Idee, die die Familie vor der Überführung nach Dänemark bewahrten. Nach Ablauf der Frist konnte Familie S. durch eine erfolgreiche Wohnungssuche der Kirchengemeinde eine Wohnung in Belm beziehen. Kurz darauf folgen jedoch weitere herbe Rückschläge: Auch die Bundesrepublik Deutschland lehnte die Asylanträge der Familie ab, die Klagen der Mutter und Töchter blieben erfolglos. Nur die Klage von Vater S. blieb unbeantwortet. Damit konnte die Familie zunächst bleiben. Das war 2019. Anfang dieses Jahres, auf Nachfrage des Verwaltungsgerichts Osnabrück an das BAMF zur Situation von Vater S., äußerte sich das Bundesamt weiterhin ablehnend, trotz der dramatischen Lage in Afghanistan. 

„Ohne Britt und ohne die vielen tollen Menschen von Exil hätte ich das nicht geschafft“

Im April 2022 lud das Verwaltungsgericht Osnabrück dann zur Verhandlung ein. Nun sollte endgültig über das Schicksal der Familie S. entschieden werden. Britt und viele Freund*innen und ehrenamtliche Unterstützer*innen waren dabei und bereiteten Vater S. gut auf die Gerichtsverhandlung vor. „Ohne Britt und ohne die vielen tollen Menschen von Exil hätte ich das nicht geschafft. Ihr Rückhalt und ihre Nähe hat mich bestärkt – obwohl ich so viel Angst vor diesem Termin hatte. Wir wollten unbedingt in Deutschland bleiben, zusammen, sicher und in Frieden – ich war so aufgeregt und gleichzeitig so froh, dass Britt da war“ erzählt Vater S. „Abschiebungsverbot! Dass das Gericht so entschieden hat, ist aus meiner Sicht Britt und den Menschen von Exil zu verdanken! Ich bin gerade sprachlos, dabei wünschte ich, dass ich so viele Worte hätte, um meinen Dank zu zeigen. Deswegen ist das Einzige was ich gerade sagen kann: DANKE! Aber es kommt aus tiefster Seele“ Abschiebungsverbot: Das bedeutet für Familie S., dass sie in Deutschland leben und arbeiten dürfen und nach fünf Jahren Aufenthalt sogar eine Niederlassungserlaubnis beantragen können.

In der Reihe „Menschen im Exil“ stellen wir anlässlich unseres 35-jährigen Bestehens Menschen vor, die wir durch unsere Arbeit dabei unterstützen konnten, in Deutschland nach ihrer Flucht wieder Fuß zu fassen und in Osnabrück einen Ort zum Zuhause-Fühlen zu finden. Das hätten wir ohne das Mitwirken unserer Mitglieder, Ehrenamtlichen und Spender*innen nicht geschafft. Dafür sagen wir ganz herzlich Danke!

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