Zeit zum Kindsein: Wenn Reiten Kinderseelen entspannt

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Erfolgsgeschichten aus 35 Jahren Exil – Auf dem Rücken der Pferde: FreiZeit für junge Geflüchtete schenkt geflüchteten Kindern Momente des Glücks

Osnabrück, 30.09.2022. Langsam bewegt sich das anmutige Tier vorwärts. Seine Hufe zeichnen Abdrücke in den weichen Sand. Groß und ruhig schauen seine Augen, seine Nüstern pusten warmen Atem aus. Dann schnaubt Amigo. „Das kennst du schon, stimmt’s? Ganz toll machst du das.“ – Ulrike Baier, Kassenwartin und Schriftführerin des Reit- und Fahrvereins Hesepe e.V., klopft dem schwarzen Vierbeiner liebevoll den Hals. Über dem Rücken des Tieres zappeln zwei kleine Kinderhände und ein paar kleine Turnschuhe reichen nicht ganz bis zum Bauch. Lautes Kinderlachen schallt von allen Seiten. Am Langzügel führt Baier Pferd und Reiterin einmal um den Platz. Danach hilft sie Halima* herunter. Das Mädchen aus Afghanistan schaut Amigo liebevoll an, streichelt ihn und rennt zurück zu seiner Mutter, die etwas abseits auf sie wartet.

Alle Kinder dürfen auf den vier Pferden reiten

Zusammen mit 21 Kindern aus der Erstaufnahmeeinrichtung Bramsche besucht heute das Team des Exil-Projekts FreiZeit für junge Geflüchtete (FjG) den kleinen Pferdehof im Norden des Landkreises. Vier Pferde stehen für die Kinder bereit, damit alle reiten können. Den Mitgliedern des Reit- und Fahrvereins ist es wichtig, dass es den Tieren bei der Aktion gut geht und dass die Pferde abwechselnd an der Reihe sind. Ein Großteil der kleinen Reiter kommt aus Afghanistan und ein paar Kinder aus dem Irak. Drei ganz Kleine haben ihre Mama mitgebracht. Alle wollen gerne reiten und so bildet sich eine lange Schlange auf dem Reitplatz, gefüllt mit vielen Erwartungen und großer Vorfreude.

Gegründet wurde die Initiative bereits 2003

Im Rahmen des Exil-Projekts „FreiZeit für junge Geflüchtete“ gestalten Ehrenamtliche von Exil Freizeitaktionen für Kinder und Jugendliche aus der Erstaufnahmeeinrichtung Bramsche. Ziel ist es, die Isolation der Sammelunterkunft für Geflüchtete zu überwinden und eine Plattform für Kinder und Jugendliche zu schaffen, auf der sie unabhängig von ihrer Herkunft oder ihres rechtlichen Aufenthaltsstatus als gleichberechtigte junge Menschen wahrgenommen und gefördert werden. Initiiert wurde das Projekt 2003 von zwei engagierten Grundschullehrerinnen, die Spielnachmittage im örtlichen Gemeindehaus anboten. Die Nachfrage stieg kontinuierlich an und aus gelegentlichem Zusammensein wurden regelmäßige Aktionen an den Wochenenden, die seit 2014 auch vom Kinderhilfswerk terre des hommes unterstützt und gefördert werden.

„Bastelstunden, musikalische oder sportliche Aktivitäten“

„Unser Projekt richtet sich zum einen an Kinder bis 14 Jahre aus der Erstaufnahmeeinrichtung Bramsche, zum anderen an Jugendliche ab 15 Jahren, z.B. auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in der Stadt Osnabrück untergebracht sind. Für beide Zielgruppen bieten wir altersgerechte Aktionen an“, erzählt Eva Wissen, eine von heute insgesamt vier wunderbaren Köpfen bei FjG, die diesen Reitnachmittag organisiert haben. „Da planen wir dann verschiedenste Freizeitaktivitäten, wie z.B. Bastelstunden, musikalische oder sportliche Aktivitäten. Wir wollen den geflüchteten Kindern eine möglichst große Vielfalt an Freizeitgestaltungen bieten und sind deshalb heute auf den Reiterhof gefahren“, ergänzt Lorena Maldonado, Evas Kollegin.

Ausgezeichnetes Engagement

FreiZeit für junge Geflüchtete wurde 2015 vom Deutschen Kinderschutzbund Landesverband Niedersachsen e.V. mit dem Niedersächsischen Kinder-Haben-Rechte-Preis ausgezeichnet und 2020 mit dem Preis „Engagiert – Niedersachsen-Preis für Bürgerengagement“. Neben terre des hommes tragen auch die Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung und zahlreiche private Spender*innen zum Gelingen des Projekts bei. „Unsere Unterstützer*innen ermöglichen es den Kindern, einen Tag lang wieder Kind zu sein. Viele Kinder haben einen sehr schweren Weg hinter sich und haben dabei einen Teil ihrer Kindheit verloren. Wir versuchen, ihnen neue Kindheitsmomente zu schenken“, so Eva weiter. Neben ihrem Ergotherapie-Studium engagiert sie sich seit zwei Jahren bei Exil e.V. Aus Überzeugung und weil Gutes tun auch ihr selbst gut tue. „Ich möchte, dass die Kinder aus der LAB rauskommen. Da sind überall Zäune, das ist kein Ort für Kinder. Unser Konzept ist auch: Wir machen keine Aktion in der Erstaufnahmeeinrichtung. Man merkt, dass es den Kindern gut tut, raus zu kommen und einen anderen Ort zu haben zum Spielen, das ist mein Motor!“

Schon zum vierten Mal zu Besuch beim Reit- und Fahrverein Hesepe

Zum vierten Mal sei FjG mit den Kindern jetzt schon zu Gast beim Reit- und Fahrverein Hesepe. Der Kontakt sei damals über Ulrikes Tochter, Anna Lena Baier, und deren Freundin, Alicia Graf, zustande gekommen. Anna Lena sei bis 2015 bei Exil engagiert gewesen und sei danach für ein Studium nach Kassel gezogen. Ihre Freundin Alicia sei länger bei Exil aktiv gewesen und sie sei damals auch auf den schönen Einfall gekommen, einen Reitnachmittag für geflüchtete Kinder anzubieten.

Zuckergussverschmierte Münder und strahlende Augen

 „Wir kennen die Macht der Tiere. Damit meine ich die Fähigkeiten und die beruhigende Wirkung, die speziell Pferde auf Menschen haben können. Deswegen war uns klar, dass wir Exil unterstützen und den Kindern aus der Erstaufnahmeeinrichtung einen schönen Tag bereiten wollen“, erklärt Ulrike Baier. Auch heute wieder stellt das Team vom Reit- und Fahrverein Getränke bereit und serviert selbst gebackenen Kuchen. Alle liebevoll verziert, mit pinken und weißen Perlen und mit ganz viel essbarem Glitzerpuder. Helme in unterschiedlichen Größen haben sie zudem aus ihrem Privatbestand organisiert. Bälle, Springseile, ein Gummitwist und manches mehr wartet außerdem auf die am Rand stehenden Kinder, die die Wartezeit auf den nächsten Ritt damit gerne überbrücken. Zuckergussverschmierte Münder und strahlende Augen mischen sich dazu, genauso wie freudiges Lachen und unbeschwertes Toben. „Für mich ist das das Schönste, wenn ich die Kinder lachen sehen kann, dann hat sich alles gelohnt. So muss Kindheit sein“, strahlt Ulrike und fügt an: „Nächstes Jahr machen wir das wieder.“ Sie nickt Eva zu, die zurück lacht und kurz darauf von zwei Mädchen im Wettrennen besiegt wird.


* Name redaktionell geändert.

In der Reihe „Menschen im Exil“ stellen wir anlässlich unseres 35-jährigen Bestehens Menschen vor, die wir durch unsere Arbeit dabei unterstützen konnten, in Deutschland nach ihrer Flucht wieder Fuß zu fassen und in Osnabrück einen Ort zum Zuhause-Fühlen zu finden. Das hätten wir ohne das Mitwirken unserer Mitglieder, Ehrenamtlichen und Spender*innen nicht geschafft. Dafür sagen wir ganz herzlich Danke!

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