Stellungnahme: Rassismus und rechte Gewalt in Strafverfahren benennen

Stellungnahme: Rassismus und rechte Gewalt in Strafverfahren benennen

Osnabrück, 23. März. Vor zwei Wochen verurteilte das Landgericht Aurich einen 29-jährigen Mann zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten wegen versuchten Mordes aus rassistischen Motiven. Der Tatbetroffene Hakim S., Familienvater mehrerer Kinder, hat schwere körperliche und seelische Verletzungen erlitten.

Die Betroffenenberatung Niedersachsen, die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus für Demokratie, der Flüchtlingsrat Niedersachsen und das Bündnis „Aurich zeigt Gesicht“ weisen auf die Notwendigkeit hin, rassistische Denkweisen in Strafverfahren einzubeziehen. Ängste von Betroffenen müssen ernst genommen werden. Rechtsextremen Einstellungen muss der Nährboden entzogen und frühzeitig auf Vorkommnisse reagiert werden. Die Verbände sind betroffen, dass das Gerichtsverfahren trotz der schwerwiegenden Tat und der rassistischen Tatmotivation kaum überregionale Aufmerksamkeit gefunden hat.

Das Verfahren endet, die Angst bleibt

Der Täter geht ins Gefängnis, das Verfahren ist beendet. Für den Betroffenen Hakim S. hat die Tat weiterhin schwerwiegende Folgen. Ein Teil seiner Lunge musste entfernt werden, die psychischen Folgen des Übergriffs wiegen schwer und belasten ihn. Er zieht in Erwägung, aus seinem Wohnort wegzuziehen, weil die Belastung zu groß ist.

Der Betroffene Hakim S. berichtet:

„Ich habe immer noch Angst. Der Täter ist Rassist und hat versucht mich zu töten. Es hat fast niemanden interessiert, was passiert ist. Auf mich wurde geschossen aus rassistischen Motiven und es wurde fast nichts berichtet. Es wurde versteckt, fast niemand hat davon gelesen. Wenn ein deutscher Täter schießt, ist das anscheinend nicht wichtig. Für mich sind alle Menschen gleich, die Hautfarbe ist mir egal. Ich bin aus meiner Heimat geflohen, weil dort Krieg herrscht. Ich will, dass es meinen Kindern und meiner Familie gut geht. Ich will sicher sein und wurde fast getötet. Ich habe nur ein gutes Leben gesucht. Jetzt habe ich Angst.“

Rassistische Denkweisen müssen in Strafverfahren einbezogen werden

Sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft haben von vornherein den rassistischen Hintergrund klar benannt und in Verbindung mit der Tat gebracht. Leider ist dies in Verfahren gegen Rechte nicht selbstverständlich. Häufig genug findet vor Gericht eine rassistische Täter-Opfer Umkehr statt, rechte Gesinnungen werden verharmlost oder nicht einbezogen und Verfahren werden verschleppt.

Marc Weber vom Osnabrücker Zentrum für Geflüchtete Exil e.V. ist Berater im Regionalbüro Nordwest der Betroffenenberatung Niedersachsen und erklärt:

„Das Verfahren am Landgericht Aurich zeigt die Notwendigkeit, rechte und rassistische Denkweisen in Strafverfahren einzubeziehen. Das Gericht war überzeugt, dass es nicht zum Schuss gekommen wäre, wenn der Betroffene Deutsch gewesen wäre. Rechte Gewalt und ihre Folgen müssen klar benannt werden.“

Wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit

Über lokale Berichterstattung hinaus bekam das Verfahren kaum Aufmerksamkeit. Ein fast tödlicher Schuss aus rassistischer Gesinnung führt im Jahr 2021 zu keinem Aufschrei mehr, zu keiner Empörung, so normal scheint rassistische Gewalt inzwischen zu sein. Dabei zeigt das Gerichtsverfahren eindrücklich, dass es sich keineswegs um einen einzelnen Täter gehandelt hat. Vielmehr war die Tat eingebunden in ein rassistisches Umfeld. Nach der Schussabgabe versteckten Personen aus dem Umfeld des Täters die Tatwaffe und versenkten sie im Kanal, laut vernommenen Polizeibeamt*innen war die Aussagebereitschaft vor Ort sehr gering. Dies alles nach einem Schuss auf einen Menschen. Zeug*innen aus dem Umfeld des Angeklagten haben bei der Polizei bewusste Falschaussagen gemacht, die den Betroffenen belasten sollten. Zeug*innen versuchten vor Gericht, den Tathergang zu verändern, um den Angeklagten zu schützen.

Jan Krieger von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus für Demokratie:

„Bereits 2019 kam es in Esens zu einem Angriff auf einen jüdischen Künstler, der sich im Anschluss daran dazu entschlossen hat, den Ort zu verlassen. Aus der Region erreichten uns in der letzten Zeit vermehrt Hinweise auf rechte Aktivitäten. Solchen Kontinuitäten muss mit allen Mitteln entgegen gewirkt werden. Rechtsextremen Einstellungsmustern, die gesamtgesellschaftlich weit verbreitet und anschlussfähig sind, muss der Nährboden entzogen werden, indem sich Politik und Zivilgesellschaft vor Ort für eine solidarische und menschenrechtsorientierte Gesellschaft einsetzen. Bereits vor angezeigten Straftaten kann es zu Einschüchterung und Bedrohungen von Menschen kommen, die nicht in das rechte Weltbild passen. Ängste von Betroffenen müssen ernst genommen und diese vor Ort ausreichend unterstützt werden.“

Jörg Köhler, 1. Vorsitzender von Aurich zeigt Gesicht (AzG):

„Ich mache mir Sorgen, dass es im eher „beschaulichen“ Ostfriesland auch Menschen gibt, denen rechtes Gedankengut nicht fremd ist. Leider wird bei solchen Taten oftmals von Einzeltätern gesprochen. Es gibt jedoch auch immer Hintergründe und mögliche Strukturen hinter einer solchen Tat. Wie sich gezeigt hat, werden oder sollen Vorkommnisse auch vertuscht werden. Aurich zeigt Gesicht fordert die Menschen auf, sensibel zu sein, „Augen und Ohren“ offen zu halten und Vorfälle ggf. auch zu melden. Die genannten Beratungsstellen, aber auch AzG stehen dafür zur Verfügung.“

Hintergründe der Tat 

Am 18. Juli 2020 schoss der Verurteilte in Esens nach einem Streit auf einer Party aus einer Entfernung von 20 Metern mit einem leistungsgesteigerten Luftgewehr auf den Betroffenen somalischer Herkunft und verletzte diesen so schwer, dass er nur dank einer Notoperation überlebte. Die Hintergründe der Tat und die Weltanschauung des Täters wurden vor Gericht eingehend beleuchtet. Auf seinem Handy fanden sich Chatnachrichten mit rechtsradikalen Inhalten, „kleine Hassreden“ (vorsitzender Richter) in Sprachnachrichten, Bilder mit massiv rassistischen und rechtsextremen Inhalten, darunter Bilder von Adolf Hitler, Hakenkreuzen und Wehrmachtssoldaten. Zusätzlich war der Angeklagte in mindestens einer Chatgruppe, in der solche Inhalte geteilt und verbreitet wurden.

Laut Gericht hat der Angeklagte selbst aktiv und bewusst solche Inhalte verbreitet. Seine rassistische und rechtsextreme Gesinnung sei tief verwurzelt, die Inhalte auf seinem Mobiltelefon waren eine „Blaupause für die Tat“, so der vorsitzende Richter.

 

Hinweis: Bei dieser Mitteilung handelt es sich um eine gemeinsame Stellungnahme der Betroffenenberatung Niedersachsen, der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus für Demokratie, des Flüchtlingsrats Niedersachsen sowie des Bündnisses „Aurich zeigt Gesicht“.

Weitere Beiträge