Kinder auf der Flucht verloren – Wiedersehen nach sechs Monaten Trennung in Osnabrück

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Erfolgsgeschichten aus 35 Jahren Exil: Eltern und Kinder mit Hilfe von Exil und ehrenamtlichen Helfer*innen wieder vereint

„Wenn Mama mir wieder „Gute Nacht“ sagen kann“

Osnabrück, 29. April 2022. Diesen Freitagabend im April 2022 werden Baschar* (16) und Enis* (11) so schnell nicht vergessen. Beide halten die Hand ihrer Mutter. Enis, der Kleinere, schmiegt seinen Kopf ganz fest an Ihren Körper. „So lange habe ich mir vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn wir uns alle wiedersehen“, sagt er. „Wenn Mama mir wieder „Gute Nacht“ sagen kann – und jetzt bin ich einfach nur froh und glücklich, dass Baschar und ich es geschafft haben, dass wir wieder bei Mama und Papa sind und dass alles wieder gut wird.“

Mutter und Kinder wurden am Grenzübergang von Weißrussland nach Polen getrennt

Die Brüder haben eine wahre Odyssee hinter sich. Unvorstellbar für Unbeteiligte, was sie auf der Flucht von Syrien nach Deutschland haben durchmachen müssen. Lange hatte Vater M., der bereits vor einigen Jahren nach Deutschland geflohen war und einen Aufenthaltstitel besitzt, vergeblich versucht, seine Familie über den Familiennachzug nach Deutschland zu holen. Mehrfach lehnte die deutsche Ausländerbehörde die Gesuche von Vater M. ab. Ende letzten Jahres waren die Zustände in Syrien für Mutter M. dann so unerträglich, dass sie sich Ende November mit ihren Kindern zur Flucht nach Deutschland entschloss. „Beim Grenzübergang von Weißrussland nach Polen ist es dann passiert“, erzählt sie. „Da waren so viele Menschen – viele Hunde und Bewaffnete, es war abends, alles war dunkel.“ Die 38-Jährige schließt die Augen und macht eine Pause. „Alles war so laut und ich wollte doch nur unsere Pässe raussuchen und sie vorzeigen, da hab‘ ich die Hände meiner Kinder losgelassen…“.

Baschar und Enis versteckten sich in einem Waldstück in Weißrussland

In einer großen Menschenmenge und unter viel Geschrei seien sie getrennt worden. Mutter M. gelangte von Polen nach Deutschland, Baschar und Enis blieben alleine zurück und versteckten sich in einem Waldstück in Weißrussland. Nach einiger Zeit im Wald wurde Enis wegen einer Unterkühlung und aufgrund des hohen Stress-Levels ohnmächtig. Von einem belarussischen Grenzposten wurden Baschar und Enis dann ins Krankenhaus gebracht. Nach vier Tagen konnten beide von einem Verwandten am Krankenhaus abgeholt werden.

Nur gemeinsamer Kraftakt ermöglicht schnelle Familienzusammenführung

Mutter M. hatte sich in der Zwischenzeit mit der Bitte um Unterstützung an Michelle Morgenstern von Exil e.V. gewandt. Im Team der Migrationsberater*innen ist Michelle Spezialistin für Familienzusammenführungen. „Im Dezember habe ich Mutter M. kennengelernt“, erinnert sie sich. „Trotz ihrer Erfahrungen ist sie eine sehr starke Frau, die aktiv und tapfer nach ihren Kindern gesucht hat. Zu keinem Zeitpunkt hat sie die Hoffnung aufgegeben und viel dafür getan, dass sie sechs Monate später ihre Kinder in Osnabrück in die Arme schließen konnte.“ Auch die gute Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft in Minsk habe dazu geführt, dass die Familie so schnell wieder zusammengeführt werden konnte. Sie stellte den beiden Jungs ein Visum zur Einreise nach Deutschland aus – so konnten sie sicher in Osnabrück empfangen werden. Michelle Morgenstern organisierte in Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Helfer*innen der Refugee Law Clinic Osnabrück die komplette Überführung der beiden Jungs nach Deutschland. Das belarussische Rote Kreuz und die Deutsche Botschaft in Minsk kümmerten sich um die Besorgung aller notwendigen Papiere. Normalerweise dauert eine Familienzusammenführung zwischen ein bis drei Jahren. Viele Papiere fehlen oder sind gar nicht ausfindig zu machen und an nötiger Unterstützung mangelt es zumeist – das war hier anders.

Reise mit Bus und Bahn nach Deutschland in Begleitung Ehrenamtlicher

„Ich war permanent in Kontakt mit der Deutschen Botschaft und habe die Jungs aus der Ferne bei den Visaanträgen und den Formalien begleitet und unterstützt. Darüber hinaus stand ich im Austausch mit den Ehrenamtlichen und habe Fragen beantwortet“, erzählt Michelle weiter. Ohne die Hilfe und Unterstützung der Freiwilligen der Refugee Law Clinic wäre die Planung der Reise nach Deutschland nicht möglich gewesen. Denn der Krieg in der Ukraine hat die Ausreise der Jungs zusätzlich erschwert: Flüge sind komplett ausgefallen oder waren unbezahlbar. Letztendlich glückte die Reise mit Bus und Bahn in Begleitung Ehrenamtlicher. Mit Mutter M. zusammen hat Michelle währenddessen wichtige weitere Schritte zum sicheren Aufenthalt in Osnabrück eingeleitet. Aber damit ist es noch nicht getan.

Enis und Baschar wollen Deutsch lernen und Freunde finden

Beide Kinder haben Aufenthaltstitel und wollen zusammen mit Michelle Familienasyl beantragen. Jetzt steht die Eingliederung ins deutsche Schulsystem an, Baschar und Enis wollen Deutsch lernen und hier Freunde finden. Es gilt das Erlebte zu verdauen und mit Mutter und Vater wieder zusammenzuwachsen, denn jetzt sind sie sicher hier in Osnabrück. Dank der vielen Helfer und dank Michelle von Exil e.V.


* Namen redaktionell geändert.

In der Reihe „Menschen im Exil“ stellen wir anlässlich unseres 35-jährigen Bestehens Menschen vor, die wir durch unsere Arbeit dabei unterstützen konnten, in Deutschland nach ihrer Flucht wieder Fuß zu fassen und in Osnabrück einen Ort zum Zuhause-Fühlen zu finden. Das hätten wir ohne das Mitwirken unserer Mitglieder, Ehrenamtlichen und Spender*innen nicht geschafft. Dafür sagen wir ganz herzlich Danke!

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