Human Library in Osnabrück: Lebendige Bücher erzählen bewegende Lebensgeschichten

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Exil-Vorstandsmitglied Solomon Kiruri vermittelte den Zuhörenden das Thema „Alltagsrassismus“ auf eindrucksvolle und nachvollziehbare Weise. Foto: Fred Siemer

Persönliche Begegnungen mit Themen wie Flucht, Rassismus und außergewöhnlichen Lebenswegen berühren die Besucher*innen der Stadtbibliothek

Am Mittwoch, 2. Oktober, wagte die Stadtbibliothek ein spannendes Experiment und präsentierte erstmals in Osnabrück das Begegnungsformat Human Library. Interessierte Besucherinnen treffen dabei auf so genannte Human Books. Das sind Menschen, die bestimmte Themen repräsentieren und in denen die Besucherinnen – wie in den Büchern der Bibliothek – neugierig „blättern“ dürfen. Von „Leben im Bauwagen“ über „Drogensucht“, „schwul“ und „Nonne“ bis hin zu „Flucht“ reichte das Spektrum der Themen, zu denen sich die „Bücher“ in insgesamt vier halbstündigen Gesprächsrunden jeweils zwei bis drei Fragenden stellten.

„Oh, das war aber nicht rassistisch gemeint“

Exil-Vorstandsmitglied Solomon Kiruri informierte zum Thema „Alltagsrassismus“. Nein, er informierte nicht nur, er machte anschaulich und spürbar, wie sehr das Leben eines schwarzen Menschen davon beeinflusst wird, wenn ihn sein Umfeld anders behandelt als andere. Wenn er – Solomon studiert seit vier Jahren in Osnabrück – beim Betreten der Mensa viel öfter seinen Studentenausweis vorzeigen muss als seine Kommilitonen. Wenn Leute Abstand suchen, weil er sich im Bus neben sie stellt. „Oh, das war aber nicht rassistisch gemeint“, hört er oft. Und antwortet von Fall zu Fall, dass er es aber so verstanden haben könnte. Denn darauf komme es an. Die aktuelle politische Diskussion betrachtet er mit Sorge, das Klima in manchen, vor allem ostdeutschen Kommunen beunruhigt ihn. „Nach allem, was mir meine Bekannten erzählt haben, weiß ich nicht, ob ich dort leben könnte.“

Von „Leben im Bauwagen“ über „Drogensucht“, „schwul“ und „Nonne“ bis hin zu „Flucht“ reichte das Spektrum der Themen. Foto: Marlene Schriever

„Weil eine Tante schon hier war“, antwortet Ahmad ruhig, „und wegen Angela Merkel“.

Zum Thema Flucht lud der gebürtige Syrer Ahmad ein. Er kam vor neun Jahren über die Türkei, das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland, nachdem er wie so viele Intellektuelle wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten verhaftet worden war und über ein Jahr in Foltergefängnissen in Syrien verbracht hatte. Es ist immer wieder bewegend, wenn Zeitzeugen von menschlichem Leid berichten. Verfolgte des NS-Regimes, Stasi, Kriegsteilnehmer – jeder kann sich wohl an solche Vorträge erinnern. Doch die Human Library funktioniert anders. Hier sitzt der Zeitzeuge keinen Meter entfernt, antwortet direkt, schaut einem in die Augen, wenn er von einer viel zu kleinen Dunkelzelle erzählt, die mit 70 Häftlingen vollgestopft war. Die Zuhörerinnen und Zuhörer spüren seine Anspannung, würden ihn am liebsten tröstend in den Arm nehmen, fragen aber weiter, denn sie wollen wissen, wie dieses Drama endete, warum dieser Mann nach Deutschland kam. „Weil eine Tante schon hier war“, antwortet Ahmad ruhig, „und wegen Angela Merkel.“ Er fühlt sich endlich wieder sicher, freut sich über die vielen hilfsbereiten Menschen.

„Es ist nicht leicht, in der Fremde neu anzufangen.“

Ahmad hat in Osnabrück eine Familie gegründet, er sagt, seine Integration sei abgeschlossen. Heimweh und Albträume lassen nach, sind aber noch nicht verschwunden. „Dann gehe ich durch mein geliebtes Damaskus, zu den schönsten Plätzen“, sagt er leise, „und spüre, dass mich der Geheimdienst gleich wieder verhaften wird.“ Noch immer treibt ihn die Sorge um die zurückgebliebenen Familienangehörigen um, und von vielen seiner Landsleute weiß er, dass sie sofort nach Syrien zurückkehren würden, wenn Diktator Assad endlich verschwinden würde. „Es ist nicht leicht, in der Fremde neu anzufangen.“

Dann verabschiedet man sich voneinander

Doch trotz der Schwere der Themen hat dieses Format auch eine gewisse Leichtigkeit, in der sich die Menschen darauf einigen können, respektvoll und neugierig miteinander umzugehen. Am Ende eines Gesprächs sagt eine Teilnehmerin, verbunden mit einem großen Dankeschön für die Offenheit: „Dann stellen wir dich mal wieder ins Regal“, und das Menschenbuch antwortet lachend: „Ja, das fühlt sich irgendwie gut an“. Es ist eine intensive und zugleich flüchtige Begegnung mit klaren Regeln und großer Offenheit, die in den aufgeheizten Diskursen der Gegenwart eine kostbare Seltenheit ist. Danach verabschiedet man sich voneinander und Ahmads Zuhörer wünschen ihm alles Gute für sein weiteres Leben in Osnabrück. Sie tun es ehrlich, freundlich und zugewandt. Sie tun es voller Dankbarkeit für seine offenen Worte, die nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Herz erreicht haben. Die Human Library, diese ganz besondere Bibliothek, sollte öfter geöffnet werden.