Erfolgsgeschichten aus 35 Jahren Exil: Aus Hilfesuchenden werden Helfende – Wie Sprache die Selbstwirksamkeit stärkt
Osnabrück, 15.08.2022. „Sabah alkhayr“, „Beyanî baş“ und „Dobroho ranku“ schallt es in den kleinen Raum im Gemeindezentrum der Bergkirche in Osnabrück. „Guten Morgen heißt das“, antwortet eine freundliche Männerstimme von etwas weiter hinten im Raum. Die Stimme gehört zu einem Herrn mittleren Alters, der es sich bereits auf einem der Stühle bequem gemacht hat. Obwohl es noch früh ist an diesem Tag, ist das Zimmer gefüllt mit Gelächter und vielen Erwartungen. Die Luft scheint wie elektrisiert, aufgeladen von Aufregung, Freude und vielleicht auch ein wenig Unsicherheit. Viele der heute 10 Teilnehmenden des neuen Deutschkurses A1, haben schon auf diesen Tag gewartet. Menschen im Asylverfahren und Personen mit Duldung erhalten keine Förderung für die Teilnahme an Deutschkursen – auch wenn sie schon lange in Deutschland leben. Aus diesem Grund bietet Exil e.V. mit Unterstützung von Ehrenamtlichen kostenlos Deutschkurse für Anfänger*innen und Fortgeschrittene an, um Grundlagen für die Alltagskommunikation zu schaffen. Johanna Witkabel, Leiterin der Deutschangebote bei Exil e.V., lacht. Zusammen mit Chantal, einer ehrenamtlichen Sprachvermittlerin, begrüßt sie die Teilnehmenden. Chantal engagiert sich seit längerem ehrenamtlich in den Exil-Deutschkursen und hat eine DaZ-Ausbildung – also eine Ausbildung für „Deutsch als Zweitsprache“. Das ist eine Basisqualifizierung als Lehrkraft im Bereich DaZ mit dem Schwerpunkt Methodik und Didaktik. Die Dauer beträgt maximal 12 Monate und ist vom BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, offiziell anerkannt.
Mix aus Kursgeschehen und Antworten auf Fragen des alltäglichen Lebens kommt an
In der ersten Stunde gehe es erst einmal darum, alle Teilnehmenden namentlich kennen zu lernen und ein bisschen ins Gespräch zu kommen, um den Stand der Deutschkenntnisse einzustufen. „Danach arbeite ich dann gerne mit unserem Buch und schaue, wie da die Resonanz ist. Viele mögen diese sichere Struktur und wüssten gerne, was an Aufgaben als nächstes kommt“, so Chantal. Genauso wichtig sei es aber, im Kursgeschehen auf Fragen des alltäglichen Lebens zu antworten. Da arbeite sie dann wieder sehr frei und dieser Mix sei es, der ihr neben dem positiven Feedback an der Sprachvermittlertätigkeit so gefalle.
Von der Praktikantin zur Leiterin der Deutsch-Angebote
Das positive Feedback kann Johanna bestätigen. Seit März letzten Jahres ist sie Leiterin der Deutsch-Angebote und hat viel zu tun. Zuvor war sie Praktikantin bei Lara Benteler, die bei Exil für die Ehrenamtskoordination zuständig ist. „Ich war gerade mitten in meinem Master der Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration. Was soll ich sagen – passender hätte die Praktikumsstelle für mich nicht sein können. Und dann bin ich bei Exil geblieben. Das war 2020.“
Warteliste ist immer gut gefüllt
Heute habe sie eine gut gefüllte Warteliste mit Menschen, die schon auf den nächsten, neuen Kurs warten – sowohl für das Sprachniveau A1 als auch für A2, so Johanna. Dabei kommen die Interessierten aus vielen verschiedenen Ländern und sprechen die unterschiedlichsten Sprachen. Arabisch, Farsi, Kurdisch, Russisch, Ukrainisch, Französisch und Türkisch sind häufig vertreten. Auch das Alter der Teilnehmenden sei sehr divers. Viele seien mittleren Alters, einige wenige stünden kurz vor Vollendung der Volljährigkeit. Viele hätten einen Fluchthintergrund, sodass sich eine oft bunt gemischte Truppe toller Menschen ergebe. Johanna selbst hat überwiegend administrative Tätigkeiten. Koordination und Organisation der derzeit sechs Sprachkurse stehen da u.a. auf ihrem Arbeitsplan. Zwei im Online-Format und vier in Präsenz. Ein Präsenzkurs findet in Georgsmarienhütte in den Räumen der St. Antonius-Gemeinde statt und die drei anderen in den Räumlichkeiten der Bergkirche in Osnabrück.
„Vollstes Vertrauen in meine Ehrenamtlichen, weil ich weiß, was sie können“
Die Sprachkurse bei Exil sind in zwei Bereiche eingeteilt: Zum einen gibt es den Bereich „Deutschkurse“, der im Moment von zehn großartigen und sehr aktiven Ehrenamtlichen getragen wird. Manche haben eine DaZ-Ausbildung, andere haben Erfahrung mit Lehrtätigkeiten und wieder andere lernen Lehre erst bei Exil. Den zweiten Bereich bilden derzeit vier wunderbare ehrenamtliche Frauen aus der Gruppe „Frauen treffen Frauen“. Unter dem Motto “Sprache schafft Vertrauen” haben Frauen in dieser Gruppe Gelegenheit, gemeinsam die deutsche Sprache zu üben. Kurze Texte und kleine Übungen verhelfen dabei zum Sprechen, Fragen stellen und Erzählen. Beim gemeinsamen Kaffeetrinken können die Teilnehmenden andere Frauen kennenlernen. Dabei sind die Treffen offen für alle interessierten Frauen, die sich angesprochen fühlen und Kontakt suchen. „Was die Sprachkurse angeht, habe ich eher eine Nebenrolle“, sagt Johanna. „Ich lasse unsere Expert*innen ihren Job machen. Sprache vermitteln, die didaktischen Herangehensweisen, das ist deren Spezialgebiet, ich bin da eher ihr „Werkzeug“ und hab‘ da vollstes Vertrauen in meine Ehrenamtlichen, weil ich weiß, was sie können.“
Win-Win-Situation für alle Beteiligten
Das zeigt sich auch an der Wirkung, die die Sprachkurse sowohl auf die Teilnehmenden als auch auf die ehrenamtlichen Sprachvermittler*innen haben. Durch bessere Deutschkenntnisse könnten die Teilnehmenden ihr Leben in Deutschland und ihren Aufenthaltsstatus positiv gestalten. So gelingt z.B. über ein Praktikum die Integration viel schneller, wenn die Sprache in Grundzügen verstanden und gesprochen werde, außerdem könnten die Teilnehmenden viel selbstwirksamer gegen bürokratische Mühlen angehen und so die Chancen erhöhen, in Deutschland zu bleiben. Genau das gleiche Bild zeige sich auch bei den Frauen von „Frauen treffen Frauen“. Das Sprechen und das Verständigen in der deutschen Sprache mache sie unabhängiger. Frauen übernähmen in fast allen Gesellschaften den Großteil der Sorgeverantwortung für Kinder – falls vorhanden – und gerieten dadurch schneller in Isolation, weil viele Angebote zur Teilhabe in Deutschland nicht damit vereinbar seien. Frauen hätten dadurch ein größeres Risiko, in Abhängigkeitsverhältnisse zu geraten: Gegenüber dem deutschen Staat, aber auch in der Ehe.
„Diese Form von Arbeit lädt Batterien auf, weil sie Spaß macht“
Mütter und Väter der Exil-Deutschkurse beschreiben, laut Johanna, eine Entlastung der eigenen Kinder. Behördengänge und Arzttermine könnten nun ohne die meist schneller und besser Deutsch sprechenden Kinder erledigt werden. „Vieles, was nicht für Kinderohren geeignet ist, bleibt ihnen erspart und kreist nur noch im Kopf der Eltern herum. Das Wissen darum, den eigenen Kindern wieder mehr Unbeschwertheit zurückzugeben, das ist den Eltern wichtig und deswegen sitzen viele bei uns in den Kursen“, so Johanna weiter. Auf Seiten der Ehrenamtlichen zeigten sich oft eigene schwere Lebensgeschichten, politische Überzeugungen zu Flucht und Migration oder eigene Fluchterfahrungen als Grund auf, warum das Ehrenamt als so wichtig empfunden wird. Viele von ihnen befinden sich im Studium, sind Rentner, Frauen und Männer in Elternzeit. Manche geben aber auch die allgemeine Kriegssituation auf der Welt an, oder auch den Ukraine-Krieg. Der habe sie emotional schwer getroffen und ihnen das Gefühl gegeben, aktiv etwas gegen das Gefühl der Angst und Machtlosigkeit tun zu können. „Diese Form von Arbeit lädt eher ihre Batterien auf, weil sie Begegnung ist, weil sie lustig ist, weil sie Spaß macht und man seine Erfahrungen weitergeben kann“, sagt Johanna. „Dabei lernen viele sich selbst neu kennen und beschreiben in den Gesprächen mit mir, dass sie selbst als Lehrende in den Kursen so viel über sich als Mensch lernen.“ Außerdem sei auch noch ein emotionaler, symbolischer Effekt zu beobachten. Durch das Deutschangebot bauten sich viele ein Netzwerk bei Exil auf und besuchen mehrere Hilfsangebote gleichzeitig. Dadurch übernehmen sie Verantwortung für ihre Situation und die eigene Zukunftsgestaltung. Aus Hilfesuchenden werden oft Helfende.
Aus Hilfesuchenden werden Helfende
„Da fällt mir sofort eine nette in die Jahre gekommene Dame aus Kurdistan ein. In der Heimat war sie Lehrerin. Auch sie ist geflohen. Von Ihren vier Kindern leben nur noch drei. Seit drei Jahren ist sie in Deutschland und im Mai das erste Mal bei „Frauen treffen Frauen“ aufgetaucht“ Johannas Augen funkeln. „Danach hat sie bei uns den A2-Kurs besucht und hat sich jetzt vor ein paar Tagen bei mir gemeldet, weil sie sich gerne ebenfalls ehrenamtlich bei „Frauen treffen Frauen“ für andere einsetzen möchte“. Das sei das Schönste an ihrer Arbeit: Den beflügelnden Effekt zu sehen, den der Spracherwerb auf die Menschen hat. Dann wissen sie und ihre Ehrenamtlichen, dass sie das Richtige tun. „So begegnen sich bei den Sprachkursen bei Exil Menschen, die alle etwas wollen und geben können und das ist doch das Schönste, was es gibt“, lacht Johanna.
Wer mitmachen möchte, kann sich gerne melden
Anfang Oktober soll ein neuer Frauenkurs mit Kinderbetreuung starten, der von vier Ehrenamtlichen getragen wird. Außerdem sei noch ein Ferienkurs für Schüler*innen in Übergangsklassen in Planung, sodass auch die zweite Jahreshälfte gut gefüllt ist. Neugierig geworden? Wer an den Treffen teilnehmen möchte oder sich ehrenamtlich an den Sprachkursen beteiligen möchte, kann sich gerne unter sprachkurse@exilverein.de melden.
In der Reihe „Menschen im Exil“ stellen wir anlässlich unseres 35-jährigen Bestehens Menschen vor, die wir durch unsere Arbeit dabei unterstützen konnten, in Deutschland nach ihrer Flucht wieder Fuß zu fassen und in Osnabrück einen Ort zum Zuhause-Fühlen zu finden. Das hätten wir ohne das Mitwirken unserer Mitglieder, Ehrenamtlichen und Spender*innen nicht geschafft. Dafür sagen wir ganz herzlich Danke!